Inspiration zum zweiten Advent
GEBORGEN IN WAHRHAFTIGKEIT
Liebe Gabi,
ich freue mich sehr über deine Einladung, einen Text zum Thema Wahrhaftigkeit zu schreiben, auch wenn ich mir zum Jahresende eigentlich vorgenommen hatte, nicht mehr viele Worte „zu verlieren“. Auf deiner Homepage unter Inspiratives aber scheinen mir Worte sicher bewahrt in Achtung und Wertschätzung und gleichzeitig so frei, dass sie sich leichtfertig entfalten können.
„Liebe lebt im Frieden. Frieden ist da, wo wir frei und willig achtsam sind. Denn im Ursprung ist alles Gut.“
Diesen Satz schrieb ich nach einer Phase der Angst, der Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Schmerz und Verlust mündeten in dieser lichtvollen Erkenntnis. Sie hatten mich an den Ort in mir geführt, an dem weder Vergangenheit noch Zukunft eine Rolle spielten. Hier durfte sein, was ist. Hier gab es weder Schuld noch Scham, keine Vergleiche, keinen Kampf, keine Angst und keinen Mangel. Es gab keine Doppelbotschaften und keine Masken. Was war, war wahr. Hier war ich echt und es war gut. Dieser Innere Ort, den ich kennen gelernt hatte, ist frei von Gedanken und Vorstellungen. Dort angekommen, lösen wir uns von unserer Geschichte. Ideen davon, was kommen oder nicht kommen möge haben hier keinen Platz. Wir sind offen für das, was jetzt gerade wichtig und wesentlich ist. Das Jetzt ermöglicht die Erfahrung von Freiheit und gleichzeitig die Erfahrung von Sicherheit. Wir sind eingebunden in ein Großes Ganzes, das weit über uns hinaus geht. Wir sind verbunden, eins mit allem und haben deshalb große Wirkung auf alles. Viele Menschen lächeln vielleicht, doch
niemand widerspricht mehr, wenn jemand von dem Flügelschlag eines Schmetterlings spricht, der die Welt verändert. Das Jetzt wahr- und ernst zu nehmen lässt uns die volle Verantwortung für uns selbst, die Gemeinschaft und letztlich für die Erde, unser aller Fundament, übernehmen. Das Jetzt ist immer das Ergebnis dessen, was war und der Ausgangspunkt für das, was kommen wird. Es ist unsere einzige Wahrheit, ein Zeitraum, in dem Wahrhaftigkeit liegt. Das achtsame Üben von Wahrhaftigkeit in Stille und Bewegung, allein oder in Gemeinschaft, in, mit und als Teil der Natur ermöglicht es uns, die Tatsache zu erinnern, dass nichts in uns ist, was nicht in seinem Ursprung gut und heil ist. In diesem tiefen Raum der Wahrheit gibt es keine Zweifel. In diesem Zustand der Achtsamkeit fühlen wir uns geborgen. Geborgen in der Wahrheit von Raum und Zeit. Geborgen in uns selbst. Geborgen in Wahrhaftigkeit.
Von hier aus zu handeln bedeutet keine Gefahr, denn das, was in der Wahrheit entspringt stellt keine Bedrohung dar. Weder für mich noch für andere. Folge ich Impulsen, die in Wahrhaftigkeit entstehen, bin ich unbedenklich, ungefährlich, harmlos. Ich bin Teil eines großen Friedens. Wahrhaftigkeit ist nichts, was wir uns erarbeiten oder hart erkämpfen müssen. Wir werden in Wahrhaftigkeit geboren, oder werden in die Wahrhaftigkeit hinein geboren und haben jederzeit die Möglichkeit, wieder daran anzuknüpfen. Kein Säugling oder Baby würde uns etwas vormachen um ein gutes Bild abzugeben. Es würde nicht taktieren, keine Strategien benutzen, keine Doppelbotschaften senden. Es setzt sich keine Maske auf, spielt kein Spiel. Es ist blank. Wie die Wahrheit selbst. Kehren wir, zumindest zeitweilig, zurück zu diesem blanken Selbst! Doch welcher Alltag lässt das zu? Und es braucht Mut. Und es klappt nicht auf Anhieb. Aber das Üben allein lohnt sich. Schon als Kind habe ich furchtbar darunter gelitten, dass alles und alle um mich herum nicht echt waren. Ich war überzeugt, die Wahrheit zu kennen. Und damit war ich allein. „Du interpretierst zu viel“ war alles, was ich auf mein ständiges Nachfragen zur Antwort bekam. Heute ist es meine Lebensaufgabe, Orte, Räume und Situationen zu kreieren, die Menschen den
Zugang zum Erinnern, Erleben und Ausdrücken von Wahrhaftigkeit erleichtern. Diese „Guten Orte“ öffnen Geist, Herz und Sinne für die Wahrnehmung der Schönheit des Lebens, lehren Achtung und Wertschätzung und ermöglichen inneres Wachstum.
Dennoch haben viele Menschen Angst vor dem, was passiert, wenn sie sich in den offenen, tiefen Raum in sich begeben, in dem sie keine Masken mehr tragen. Was bleibt von mir und was kommt hervor, was bisher versteckt blieb? Komme ich mit meinen Schatten klar? Vielleicht ist diese Angst die Grundlage dafür, dass so viel Kraft investiert wird, im Kontakt mit anderen ein Weltbild und vor allem das Selbstbild zu verteidigen oder zu stabilisieren. Vielleicht ist es das, was uns irritiert und manchmal einsam empfinden lässt in der Gesellschaft anderer Menschen, die uns unter Umständen sogar nahestehen. Vielleicht kommen wir deshalb oftmals nicht in einen
wirklichen Kontakt und nach einem Gemeinschaftserleben bleibt ein schales Gefühl von Leere und Befremden. Auch die Stille löst Furcht vor den eigenen verborgenen Untiefen aus. Stille ist ein hohes Gut. Ich liebe es, in ihr allein zu sein. Ich liebe es auch, sie mit anderen zu teilen, denn sie ist völlig ungefährlich! Stille gibt Raum für wahrhaftige Impulse. In der Stille entsteht, was wirklich wesentlich ist, denn es darf aus der Tiefe, aus dem Kern dessen wachsen, was in dem Moment wirklich zählt. So oft schon habe ich daran teilhaben dürfen, wie Menschen in der Stille nicht Schatten, sondern bisher ungeahnte Lichter entdeckt haben! Und auch in Konflikten sich und anderen plötzlich aus einem Frieden und einer Gelassenheit heraus begegnen konnten, die sie bis dahin nicht für möglich gehalten hatten. Wie im Kleinen so im Großen. Wir finden die Wahrheit in jeder und jedem Einzelnen von uns ebenso wie im Großen Ganzen. So wie im Teilen der eigenen Wahrheit erfahren wir uns auch allein im stillen
Raum des reinen Jetzt geborgen in Wahrhaftigkeit. Liebe Gabi, ich halte viele gesprochene oder geschriebene Worte für überflüssig, auch meine eigenen. In den Begegnungen mit dir aber sind sie Ausdruck unserer gemeinsamen Freude am
Erkennen von purer Menschlichkeit und ursprünglicher Schönheit. Wenn Sprache die Tonträger für die Schätze sind, die sich im Raum der Wahrhaftigkeit befinden und sie sich durch sie wohlwollend und Frieden stiftend in der Welt ausbreiten, dann sind diese Worte nicht verloren.
Alles Liebe, Tanja